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Mittwoch, 5. September 2012

Syrien: "Volk gegen Volk"

Unser dritter Beitrag über die Iran-Lügen des Mainstreams unter dem Titel "Die Isolationslüge" erscheint morgen.

Heute bringen wir mit freundlicher Genehmigung des Autors den Artikel "Volk gegen Volk" von Jürgen Todenhöfer. Unter dieser Überschrift erschien  der Beitrag am 3. September in der Printausgabe der Süddeutschen Zeitung. In der Olineausgabe fehlt der interessante Standpunkt Jürgen Todenhöfers.
Auch wenn wir uns wegen der massiven Einmischung von außen in Syrien, der vielen ausländischen Söldner und dem Charakter des Konfliktes als Stellvertreterkrieg, nicht ohne weiteres dem Terminus "Bürgerkrieg" anschließen: Eine verbreitenswerte Analyse des Krieges und kompakter Überblick über die Chronologie der Ereignisse in Syrien.
Unsere Ansichten unterscheiden sich marginal. Wir fühlen uns Jürgen Todenhöfer verbunden.

Volk gegen Volk
Der syrische Krieg ist von außen nur noch schwer zu durchschauen, weil er ständig sein Gesicht verändert. Vier Phasen gab es bisher.
Die erste von März bis Ende April 2011 ist die Zeit friedlicher Demonstrationen. Ermutigt durch den arabischen Frühling fordern nicht nur Angehörige der vernachlässigten sunnitischen Unterschicht Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Jede ihrer Forderungen ist legitim. Selbst der Ruf nach einem Rücktritt des Präsidenten. Westliche Oppositionelle fordern so etwas auch.
Problematisch sind ihre Steinwürfe und Angriffe auf  Polizeistationen. Doch auch das kennt man aus westlichen Demokratien. Gut ausgebildete Polizisten können damit umgehen. Die syrischen Sicherheitskräfte nicht. Als Anfang März zornige Väter gegen die Festnahme ihrer Kinder protestieren, schießt der Geheimdienst. Es gibt viele Tote. Der syrische Präsident trägt hierfür die politische Verantwortung. Er ernennt die Toten zu Märtyrern - das ist mit umfangreichen staatlichen Leistungen verbunden. Er trifft die Eltern und versucht, den Konflikt zu beruhigen. Doch es gibt Kräfte, die keine Beruhigung wollen. Ende April sind auf einmal Waffen und Geld da. Hauptsponsor ist wie in Libyen das kleine Katar, dessen Emir die arabische Revolution als Profilierungschance sieht. Er würde gerne den Platz Saudi-Arabiens einnehmen und wichtigster Verbündeter der USA in der Region werden.

In Phase zwei, von Mai bis August 2011, treten die ersten bewaffneten Kämpfer auf. Darunter Scharfschützen, die merkwürdigerweise sowohl auf Demonstranten als auch auf Sicherheitskräfte schießen. Sie heizen die Lage dramatisch an. Dass es diese Provokateure gibt, ist weitgehend unstreitig; umstritten ist, für wen sie arbeiten. Für inländische oder ausländische Geheimdienste, für Rebellen? Jeder im Land hat seine eigene Theorie.
Demonstrieren wird gefährlicher, die Kundgebungen aber werden größer. Auch das Regime organisiert Märsche, an denen bis zu eine Million Menschen teilnehmen, Mitglieder der sunnitischen Mittel- und Oberschicht, Alawiten und Christen. Auch sie fordern Demokratie, aber mit Assad. Zu größeren Gefechten kommt es noch selten. Die Rebellen haben nur leichte Waffen und sind den staatlichen Sicherheitskräften deutlich unterlegen.

Süddeutsche vom 3. September 2012
In der dritten Phase, von August bis Ende 2011, präsentieren sich die bewaffneten Rebellen als Schutztruppe friedlicher Demonstranten. Doch sie spielen diese Rolle nie wirklich. Wo sie mit Demonstranten auftreten, suchen die bewusst die Konfrontation mit den Sicherheitskräften. Diese schlagen hart zurück. Rebellen, Zivilisten, Soldaten und Polizisten sterben. Gleichzeitig greifen extremistische Rebellen zunehmend alawitische Zivilisten an, die sie pauschal als Vertreter des Regimes betrachten. Alawiten rächen sich an Sunniten. Die Kämpfe werden sektiererisch.

In der vierten Phase, von Anfang 2012 bis heute, verselbständigen sich die bewaffneten Rebellen. Und radikalisieren sich. Zu viele Freunde und Verwandte sind gefallen. Immer mehr Waffen fließen ins Land. Ab März auch schwere Waffen aus Katar und Saudi-Arabien. Die USA, deren Zentralkommando für den Nahen Osten sich in Katar befindet, geben politische Schützenhilfe. Nichts geschieht ohne ihre Billigung. Nach außen bleiben sie im Hintergrund; es ist ein Krieg per Fernbedienung. Es kommt zu schweren Gefechten mit den staatlichen Sicherheitskräften, die sich ebenfalls radikalisiert haben.
Die demokratischen Demonstranten der ersten Tage werden an den Rand gedrängt. Aus den friedlichen Protesten eines Teils der Bevölkerung ist ein erbarmungsloser Bürgerkrieg zwischen Anhängern der Regierung und Anhängern der bewaffneten Opposition geworden. Die Regierungstruppen bombardieren gnadenlos Wohngebiete, in denen sich Rebellen verbergen. Sie töten dabei auch Zivilisten. Die Rebellen exekutieren immer häufiger 'feindliche' Zivilisten. Einige arbeiten eng mit Terrorkommandos von al-Qaida zusammen. Beide Seiten haben jedes Maß verloren. Es gibt keine anständigen Kriege.

Der Slogan 'Assad tötet sein eigenes Volk' geht an der Realität dieses gegenseitigen Mordens vorbei. Beide Seiten töten das 'eigene' Volk. Ein Drittel der Getöteten dürften Sicherheitskräfte sein, ein Drittel Rebellen, ein Drittel Zivilisten. Regierung und Rebellen töten wahrscheinlich gleich viele Zivilisten. Wie in den meisten Bürgerkriegen. Die besondere Tragik dieses Bruderkrieges liegt darin, dass beide Seiten nur Marionetten eines großen, zynischen Machtspiels sind. Die Hauptaufgabe der Muslime des Nahen Ostens scheint darin zu bestehen, sich gegenseitig umzubringen. Wie einst unter Lawrence von Arabien. Divide et impera, teile und herrsche!
Dieses Machtspiel wird auf vier Ebenen ausgetragen.
Auf der ersten Ebene versuchen die USA, Katar und Saudi-Arabien, den Iran-Verbündeten Assad zu stürzen, um dadurch den Einfluss Teherans im Nahen Osten zu schwächen. Iran ist ihnen durch Bushs törichten Irakkrieg zu mächtig geworden.
Auf der zweiten Ebene kämpfen extremistische Sunniten und Al-Qaida-Kämpfer aus aller Welt gegen das 'ketzerische' Schiiten- und Alawitentum.
Auf der dritten versuchen die USA in Fortsetzung des Ost-West-Konflikts, Russland aus dem Nahen Osten zu verdrängen. Moskau wehrt sich.
Auf der vierten schließlich ringen Regierung und Opposition unter großen Blutopfern um die Macht in Syrien. Die Kämpfer ahnen nicht, dass sie am Ende erneut die Vormacht anderer anerkennen sollen. Und wieder verraten werden.
Die US-Regierung versucht, diese diabolischen, ineinander verknoteten Stellvertreterkriege durch Desinformation im Stil des Irakkriegs zu vertuschen. Sie erzählt das Märchen vom demokratischen Aufstand eines Volkes, den Amerika unterstützen müsse. Doch um Demokratie geht es den USA nirgendwo in der arabischen Welt. Die USA beabsichtigen nicht, ihre Ölversorgung vom Ergebnis demokratischer Wahlen im Nahen Osten abhängig zu machen. Diese Chaosstrategie ist wie beim Afghanistan- und Irakkrieg in keinem Punkt zu Ende gedacht. Sie wird für den gesamten Nahen Osten verheerende Folgen haben. Und wie ein Bumerang auf uns zurückschlagen.
Nur die USA als Hegemonialmacht des Nahen Ostens könnten den syrischen Knoten lösen. Durch direkte Verhandlungen mit allen Beteiligten. Dass Assad Blut an den Händen hat, kann sie nicht wirklich stören. Auch Obama hat Blut an den Händen. Das Blut Tausender Afghanen und Pakistaner. Und vieler Syrer. Statt die Syrientragödie anzuheizen, sollte Barack Obama vermitteln. Es wäre die erste wirkliche Friedenstat des Friedensnobelpreisträgers.

Von Jürgen Todenhöfer